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Xi Jinpings Rechtsstaatskonzept und das Ziel der Neudefinition internationaler Regeln

Dr. Moritz Rudolf, Yale University

Im Schatten der zunehmenden politischen Spannungen zwischen den USA und China und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, stellte die VR China Anfang 2023 eine Vielzahl an Initiativen und Maßnahmen vor. Diese verdeutlichen Beijings globalen Anspruch, bei Fragen des Völkerrechts internationale Maßstäbe setzen zu wollen.  

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März, 2023

Am 3. Februar veröffentlichte das chinesische Außenministerium das Positionspapier “

The U.S. Willful Practice of Long-arm Jurisdiction and its Perils”. In diesem wirft Beijing Washington den umfassenden Völkerrechtsbruch vor. Am 16. Februar, fand in Hongkong die Eröffnungszeremonie des Sekretariats der “International Organization for Mediation” statt. Es handelt sich um die erste intergouvernementale Organisation, die sich der Beilegung internationale Konflikte mittels Mediation widmet. Am 21. Februar veröffentlichte China das Konzeptpapier der „Global Security Initiative”. Dabei handelt es sich um einen chinesischen Vorschlag für ein zukünftiges System kollektiver Sicherheit (in einer Welt nach dem Ukraine-Krieg). In Folge der Ankündigung von Staatsrat Wang Yi bei der Münchener Sicherheitskonferenz, veröffentlichte Beijing am 24. Februar ein chinesisches Positionspapier zur politischen Lösung der Ukraine-Krise (China’s Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis). Das Dokument hat (erwartungsgemäß) wenig Substanz. Dennoch ist es bemerkenswert, dass China damit erstmalig einen Beitrag zur Konfliktlösung auf europäischem Boden einbringt. Zwei Tage später, am 26. Februar, veröffentlichte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die “Opinions on Strengthening Legal Education and Legal Theory Research in the New Era”. Das Dokument umschreibt umfassende Reform der Rechtsausbildung in China. Dabei wird insb. das Ziel ausgerufen, die chinesische Völkerrechtsexpertise massiv auszubauen. Zudem kündigt die KPCh die Entwicklung einer chinesischen Völkerrechtstheorie an.

 

Die Dichte und Vielseitigkeit der Ankündigungen stechen heraus. Sie verdeutlichen einen Trend, der sich seit einigen Jahren abzeichnet: Die chinesische Führung strebt danach, ein globaler Akteur bei Völkerrechtsfragen zu werden und internationale Regeln neu zu definieren.

 

Seit 2014 befindet sich Beijing im Modus des Kapazitätsaufbaus im Bereich des Völkerrechts. Xi Jinping hatte während der 4. Plenarsitzung des 18. Zentralkomitees der KPCh dazu aufgerufen, mittels des Völkerrechts die chinesische Souveränität, nationale Sicherheits- und Entwicklungsinteressen zu schützen. Während die VR China zwischen 2013 und 2016 nicht am Verfahren vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag (South China Sea Arbitration) teilnahm, bezieht sie sich zunehmend selbstbewusst auf das Völkerrecht, um die eigenen politischen Positionen darzulegen. Das ist neu. So führte Beijing im Rahmen der Spionage-Ballon Affäre aus, es sei unklar, ob US-Recht und das Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt, oder das Weltraumrecht einschlägig seien (da der Ballon auf einer Höhe von 18km flog). Ferner bezog sich das chinesische Außenministerium auf höhere Gewalt (force majeure) und bezeichnete den Abschuss des Ballons als völkerrechtswidrig.

 

Innerhalb der UN wird die VR China immer aktiver, um Rechtsbegriffe zu definieren bzw. umzuinterpretieren. Das lässt sich etwa innerhalb des UN-Menschenrechtsrats beobachten. Die VR China hat ein kollektivistisches Menschenrechtsverständnis und geniest im UNHRC Diskurshoheit. So hat die VR China die Mehrheit der Mitglieder hinter sich, um in (rechtlich unverbindlichen) Resolutionen die Menschenrechtssituation in Xinjiang oder Hongkong zu verteidigen. China wird auch zunehmend strategischer darin, Mehrheiten innerhalb des UN-Systems zu generieren, wenn es eigene Positionen bewirbt oder gewünschte Kandidaten in UN-Schlüsselpositionen wählen lässt.

 

Ferner agiert die VR China viel lautstarker im UN-System als früher. Traditionell spielte Beijing im Rechtsausschuss der UN kaum einer Rolle. Heute sind hier chinesische Diplomaten in (fast lächerlich) großer Zahl vertreten. Sie sind gut vorbereitet und ergreifen das Wort, um die chinesische Position strukturiert vorzutragen.

 

Wichtig ist festzuhalten, dass Beijing das Recht im Rahmen des „Sozialismus chinesischer Prägung“ (中国特色社会主义) und dem „Xi Jinping’schen Rechtsstaatskonzept“ (习近平法治思想) versteht und verwendet. Die Funktion des Rechts weicht fundamental vom europäischen Verständnis ab. Im Ansatz der VR China hat das Recht keinen Eigenwert. Entsprechend der marxistischen Rechtstradition sieht Beijing das Recht primär als Werkzeug, um die (materialistischen) Entwicklungsziele der Partei zu erreichen. Unter Xi Jinping ist das vor allem der sog. “chinesische Traum” (中国梦) der großen Wiederbelebung der chinesischen Nation. Entsprechend soll 2049 der Aufbau eines „modernen sozialistischen Landes, das reich, stark, demokratisch, zivilisiert und harmonisch ist“, abgeschlossen sein.

 

Das Xi Jinpingsche Rechtsstaatskonzept baut auf der Überlegung auf, dass ein funktionierendes Rechtssystem notwendig ist, um die Entwicklungsziele des Parteistaats zu erreichen. Es ist nicht überraschend, dass die Kardinalsregel des Xi Jinpingschen Rechtsstaatskonzepts die KPCh-Herrschaft ist. Eine unabhängige Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung werden als „westliche Irrwege“ abgelehnt. Beijing strebt danach, eine kompetente und loyale Justiz aufzubauen und die eigene Bevölkerung rechtstreu zu erziehen. Hochtechnologie soll helfen, das Rechtssystem effizienter zu gestalten (etwa durch digitale Gerichtsverfahren via App). Bis 2027 möchte Beijing den „sozialistischen Rechtsstaat chinesischer Prägung” stärken und bis 2035 einen “Staat auf der Basis des Rechts” (依法治国) aufbauen. Für die chinesische Führung hat dies absolute Priorität.

 

Auf der internationalen Ebene bezweckt die chinesische Führung mit dem „Werkzeug“ des Rechts, chinesische Kerninteressen zu verteidigen und den internationalen Kampf (国际斗争) durchzuführen. Hierfür hat Beijing die folgenden Prioritätsbereiche identifiziert:

 

Erstens, der Aufbau von Völkerrechtsexpertise. Am 6. Dezember 2021 erklärte Xi Jinping, die VR China benötige besser ausgebildete Völkerrechtler und eine größere Anzahl an Praktikern, die einen “globalen Blick haben, Fremdsprachen und internationale Regeln beherrschen und (über) umfassende Kompetenz bei der internationalen Verhandlungsführung verfügen”. Ferner forderte Xi wiederholt chinesische Diplomaten auf, „bei der globalen Ordnungspolitik teilzunehmen, Regeln zu setzen und den Ton anzugeben“, vor allem in der globalen Sicherheits-, Gesundheits-, Klima-, Wirtschafts- und Cyberpolitik.

 

Zweitens, Fokus auf „Rechtsstaatlichkeit mit Auslandsbezug“ (“foreign-related rule of law”, 涉外法治). Die Förderung von Rechtsstaatlichkeit mit Auslandsbezug meint, dass Beijing das eigene Rechtssystem stärken möchte, um natürliche und juristische Personen aus China vor ausländischen Sanktionen, sowie “die Einmischung und den Missbrauch von Long-Arm Jurisdiktion” besser zu schützen. Die chinesische Führung legt hierauf ein besonderes Augenmerk, da es noch großen Nachholbedarf gibt (v.a. mit Blick auf die USA). Ferner sollen mehr Gesetze mit extraterritorialer Wirkung formuliert werden. In den letzten 10 Jahren hat die Anzahl derartiger Gesetze stark zugenommen (siehe Art. 27 Anti-Spionagegesetz (2014), Art. 11 Anti-Terrorismusgesetz (2015), Art. 75 Cybersicherheitsgesetz (2017), Art. 82 Nuklearsicherheitsgesetz (2017), Art. 37 und 38 Hongkonger Nationale Sicherheitsgesetz (2020), Art. 44 Exportkontrollgesetz (2020), Art. 2 Datensicherheitsgesetz (2021), Art. 2 Datenschutzgesetz (2021), Gesetz zur Abwehr ausländischer Sanktionen (2022)). Ein weiterer Aspekt des Ausbaus von “Rechtstaatlichkeit mit Auslandsbezug” ist, dass chinesische Gerichte vermehrt ausländisches Recht anwenden. Grund hierfür ist insb. die chinesische Seidenstraßeninitiative (BRI), bei der über 140 Staaten mitwirken. Beijing gibt das Ziel vor, dass chinesische Juristen besser im Verständnis und in der Anwendung ausländischen Rechts geschult werden.

 

Drittens, internationale Regeln setzen. Die VR China möchte eine maßgebliche Rolle bei dem Formulieren internationaler Regeln in bestimmten strategischen Schlüsselfeldern spielen. Die chinesische Führung hat folgende Bereiche definiert: Hohe See, Polarregionen, Cyberraum, Weltraum, Nuklearsicherheit, Korruptionsbekämpfung und Klimawandel. Ferner hat die chinesische Führung folgende innerstaatliche Prioritäten für die Gesetzgebung bestimmt: Entwicklung der Digitalwirtschaft, Internetfinanzen, Künstliche Intelligenz, Big Data, Cloud Computing. Auch in diesen Bereichen stellt Beijing den Anspruch, internationale Regeln zu setzen.

 

Viertens, der Ausbau internationaler justizieller Zusammenarbeit insb. von Strafverfolgungsbehörden. Beijing strebt explizit die internationale Kooperation im Kampf gegen gewalttätigen Terrorismus, ethnischen Separatismus, religiösen Extremismus, Drogenhandel und transnationale Kriminalität an. Vor allem bei der internationalen Korruptionsbekämpfung will China mehr internationale Kooperation, um gestohlene Güter, veruntreute Gelder und flüchtige Straftäter, zurückzuführen. Seit 2019 ist dies auch in der BRI als „saubere“ Rechts-Seidenstraße verankert. Für diesen Zweck baut Beijing an einem globalen Netzwerk bilateraler Kooperationsabkommen. Da der EGMR Auslieferungen nach China im November 2022 einen Riegel vorgeschoben hat, nimmt Beijing primär den globalen Süden in den Blick.

 

Fünftens, Aufbau moderner internationaler Streitschlichtungsmechanismen. Mit den sog. BRI International Commercial Courts will China (bislang mit bescheidenem Erfolg) die westliche Dominanz bei internationalen Streitschlichtungsmechanismen brechen. Ferner strebt es mehr Kooperation zwischen Schiedsgerichten aus China mit BRI-Staaten an. Innovativ ist, dass Beijing sog. “One Stopp” Streitschlichtung anbietet, d.h. die Parteien können zwischen Gerichts-, Schieds- und Mediationsverfahren wählen. Beijings erfolgreiche Vermittlung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran unterstreicht zudem, dass China bei der zwischenstaatlichen Konfliktlösung – v.a. der Mediation – eine internationale Rolle einnehmen möchte.

 

Handlungsempfehlung

Selbst wenn Beijing die regelbasierte international Ordnung herausfordert, ist es unmöglich die VR China wegzuwünschen. Wir sind gerade Zeuge der ersten Phase eines selbstbewussteren Chinas, welches das Recht nutzt, um seine Interessen auf globaler Ebene voranzutreiben. China ist ein gewichtiger Akteur der internationalen Ordnung und wird einen entscheidenden Teil bei deren zukünftigen Entwicklung spielen. Politische Entscheidungsträger*innen in Deutschland und Europa müssen damit rechnen (und sich darauf vorbereiten), dass sie es mit noch besser ausgebildeten chinesischen Diplomaten und Völkerrechtlern, bei komplexen Verhandlungen zu tun bekommen. Vertiefte Kenntnisse der chinesischen Position sind unabdingbar für zukünftige Verhandlungen. Um mehr Verständnis zu erlangen, sollte ein technischer Austausch zu Völkerrechtsthemen mit China frühzeitig von Berlin und Brüssel vorangetrieben werden.

 

Selbst wenn der chinesische Vorschlag ungeeignet ist, den Krieg in der Ukraine zu beenden, unterstreicht er, dass Beijing einen Anteil im Nachkriegsarrangement für sich beanspruchen wird. Die VR China wird mit am Tisch sitzen, wenn eine fundamentale Reform des UN-Systems zur Debatte steht. Entscheidungsträger*innen müssen diesem realistischen Szenario ins Auge sehen und sich darauf vorbereiten. Die VR China sieht die bestehende internationale Ordnung als Auswuchs westlicher Machtasymmetrien der vergangenen Jahrhunderte an. Viele Staaten des globalen Südens teilen mit Beijing die Auffassung, dass eine fundamentale Reform der globalen Ordnung überfällig ist. Für westliche politische Entscheidungsträger*innen ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, Boden wieder gutzumachen innerhalb bestehender internationaler Institutionen. Um realistische politische Ziele zu erreichen wird der Manövrierraum für eine Werteaußenpolitik sehr gering sein. Um Mehrheiten zu erlangen, muss (pragmatisch) Drittstaaten die Hand gereicht werden und politische Koalitionen müssen über den G-7 Rahmen hinausgedacht werden. Vor dem Hintergrund der Umsetzung der chinesischen Völkerrechtsambitionen sind Hybris und Zynismus nicht ausreichend, um die internationale Ordnung aufrechtzuerhalten.

Dr. Moritz Rudolf is a Research Scholar in Law and Fellow at Yale Law School’s Paul Tsai China Center, where he focuses on the implications of China’s rise for the international legal order.

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