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Rua movimentada

.Wir leben in einem neuen digitalen öffentlichen Raum. Die Art und Weise, in der sich öffentliche Meinung und damit politische Mehrheiten bilden, unterscheidet sich fundamental von der öffentlichen Meinungsbildung im vor-digitalen Zeitalter.

Soziale Medien erlauben den unmittelbaren Kontakt mit den Bürger*innen unter Umgehung klassischer Intermediäre (Parteien, Presse) und schaffen damit die Möglichkeit eines neuen Typs von populistischem Volkstribun.

Zugleich gestattet der Einsatz großer Datenmengen und künstlicher Intelligenz die Übertragung einer neuen Form des Online-Marketings auf den politischen Prozess, in der jede*r Einzelne zielgerichtet und isoliert nach den jeweiligen Präferenzen angesprochen werden kann.

Aber auch jede*r Bürger*in wird durch die Digitalisierung in die Lage versetzt, unmittelbarer als je zuvor an der öffentlichen Meinungsbildung mitzuwirken. Kurzum: das Verständnis von Öffentlichkeit an sich wandelt sich im digitalen Zeitalter.

Diese Welt ist erst in Grundzügen sichtbar, dürfte aber den demokratischen Willensbildungsprozess in den kommenden Jahren grundsätzlich umkrempeln.

.Die Mittelschichten, Rückgrat eines jeden politischen Systems, sind von einer diffusen existentiellen Angst erfasst.

Es ist absehbar, dass die erst begonnenen Umwälzungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt durch Digitalisierung und Automatisierung von "White Collar“-Tätigkeiten zu einem tiefgreifenden Wandel der Arbeitsgesellschaft führen werden. Gewinner*innen und Verlierer*innen dieser Entwicklung sind noch nicht ausgemacht, und die Schätzungen, wie viele und welche Tätigkeiten bald obsolet sein könnten, variieren stark. Aber die Sorge, den eigenen Lebensstandard nicht halten zu können, führt bei den potentiell Betroffenen zu einer wachsenden Skepsis hinsichtlich des Mehrwertes der liberalen Demokratie und ihrer nationalen und multilateralen Institutionen.

.Der Konsens über die Rolle des Staates, hergebrachte Institutionen und die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit nimmt ab.

Mit der weit fortgeschrittenen Auflösung klassischer Milieus und der dazugehörigen Emanzipation von politischen "Catch-all“ Großverbänden ist nicht nur eine stärkere Ausdifferenzierung politischer Identitäten und Interessen verbunden.

Die für liberale Demokratien grundsätzlich begrüßenswerte Zunahme an Pluralismus führt in Verbindung mit der dramatischen Verkürzung des "News-Cycles“, des Bedeutungsgewinns redaktionsfreier Informationsquellen (Tweets, Blogs, WhatsApp-Gruppen, Nischenseiten, Social Media, etc.) und der Zukunftsangst zu zunehmendem Zweifel an Expert*innen und Eliten – die teils für den gesellschaftlichen, teils für den wirtschaftlich, strukturellen Wandel verantwortlich gemacht werden – und den von ihnen getragenen staatlichen Institutionen.  

.Nationalismus und Autoritarismus erleben in diesem Setting eine unerwartete Renaissance.

Wie im frühen 20. Jahrhundert dienen sie sich als emotionaler Anker in einer unsicheren Zeit an. Anders als damals bieten sie indes keinen geschlossenen ideologischen Überbau. Teils tritt der neue Nationalismus scheinbar post-ideologisch auf, teils bemüht er Versatzstücke von Rassismus, Xenophobie, Esoterik und die Beschwörung einer vermeintlich besseren Vergangenheit. 

.Hinzu tritt eine Veränderung der internationalen Lage. Demokratie ist nicht mehr nur von innen bedroht.

Autoritäre Regime zeigen offen Bestrebungen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Ländern des alten Westens zu unterminieren bzw. präsentieren sich als Gegenentwurf und arbeiten in internationalen Foren an einer Redefinition hergebrachter westlicher Definitionen von Demokratie, Rechtsstaat und individualistischen Menschenrechten. Dieser Druck wiegt umso schwerer, da das westlich, liberal demokratische Modell, anders als im Kalten Krieg, nicht mehr der unangefochtene wirtschaftliche Gewinner ist. Ein neuer Systemwettbewerb ist die Folge. 

.Das Zusammentreffen der beschriebenen innen- und außenpolitischen Faktoren erschwert es den westlichen Demokratien, die liberale, multilaterale Weltordnung aufrechtzuerhalten, denn deren Akzeptanz basiert letztlich immer auch auf der Wertschätzung liberaler, demokratischer, rechtsstaatlicher Grundprinzipien im jeweiligen nationalstaatlichen Gefüge.

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Dimensionen der Herausforderung

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